DIE PHNONG: STAAT OHNE MACHT

Im Nordosten Kambodschas, lebt das Bergvolk der Phnong, mit ca. 20.000 Mitglieder.

Sie sind in kleinere Stämmen aufgegliedert und über zahlreiche, z.T. isolierte Dörfer verstreut. Eine größere Diaspora der selben Herkunft lebt ebenfalls im Annamitischen Hochland, auf der Seite des heutigen Vietnams. Interessanterweise, besitzen die Phnong – als die eigentlichen Ureinwohner dieser Region – eine komplett unterschiedliche Kultur, außerhalb des von Sanskrit und Pali dominierten Khmer Kulturkreises. Ihre Sprachen und Sitten zeigen kaum Verwandtschaft mit denen ihrer zugewanderten und vermischten Mitbürgern. Während die Khmer eine veränderte Form einer älteren indischen Schrift verwenden, hat das „Phnong“ keine Schrift und sämtliche Kommunikation und Überlieferungen sind mündlich.
Diese besondere Kultur ist seit der Kolonialzeit Indochinas unter ständiger Bedrohung. Das Schicksal endloser kriegerischer Aktionen zwischen den stärkeren Gesellschaften von Kambodscha, China, Laos und Vietnam, und später der französischen und amerikanischen Kolonialmächte spaltete das Siedlungsgebiet der Phnong. Die dadurch entstandenen unterschiedlichen Interessen führten dazu, dass sich die Phnong öfter auf der Seite der jeweiligen Regierungsopposition ihrer Nationalgebiete befanden; was den gewaltsamen Druck auf ihre Integration in die Hauptbevölkerung noch erhöhte. Phnong praktizieren
animistische Naturreligionen, isoliert von dem vorherrschenden Buddhismus (Kambodscha) oder Daoismus (Vietnam). Ihre Sprache, Wissen, Fähigkeiten, Sagen und Lieder befinden sich an der Schwelle des Aussterbens.

Es ist mein Privileg, mit dem ausgezeichneten Linguist, Prof. Sylvain Vogel seit 1992 befreundet zu sein. Über die Jahre verbrachten wir zusammen viel Zeit in Mondulkiri, einer nordöstliche Provinz in Kambodscha, mit einer traditionell hohen Anzahl von Phnong Dörfern. Als Dozent für Sanskrit und Sprachwissenschaften an der Universität in Phnom Penh, mit Unterstützung der UNESCO und seiner Fakultät gelang es Prof. Vogel erstmals das Phnong in einem brauchbaren Werk der Grammatik zu katalogisieren und viele der Sagen, Gesänge und Sitten aufzuzeichnen. Er berichtete mir über eine Sage, die für unsere Forschung von besonderem Interesse ist: „Die Steinhäuser des Gottes Chiang“*):

Als vielerlei Stämme der Khmer sich das damals größte Reich in Südostasien mit Volksgruppen verschiedener Herkunft teilten, erschufen die Götter das Reich von Angkor, mit der gleichnamigen Metropole Angkor, des Landes Kampuchea vor dem 8. Jahrh., in der Nähe der heutigen Stadt Siem Rieb. Angkor war die damals größte Stadt der bekannten Welt, mit über 1 Million Einwohner (früheste archäologische Funde in der Region ab 5. Jahrtausend (!) Die Götter herrschten über die Bevölkerung, mit mehr oder weniger gerechten Auflagen und ließen sich von ihren menschlichen Untertanen hofieren und bedienen. Jedoch, die Menschen wollten die Götter loswerden und konnten mit herkömmlichen Waffen nichts erreichen. Da beobachtete ein Mann vom Stamme der Phnong, wie ein Kleines Kind, das auf dem Schoße eines Gottes saß, auf dessen Schenkel defäkierte. Götter haben keine körperliche Ausscheidung und mit großen Schrecken und Ekel, schleuderte er das Kind von sich und trennte die Haut von seinem Oberschenkel, die daraufhin sofort nachwuchs. Die Phnong, die als eigenständige Gruppe lebten und besonders schlecht auf die Götter zu sprechen waren und ihnen auch sehr nachlässig dienten, ersannen die List, eine menge Tonkrüge mit menschlichen Fäkalien zu füllen, um sie den Göttern als eine gängige lokale Speise anzudienen. Die Speise nennt sich Prahok in Khmer und besteht aus „verdorbenem“, also gealtertem Fisch, quasi ebenfalls ein Endprodukt des Wachstums (Heranwachsen, reifen, verderben). Die Krüge wurden übergeben mit dem Rat, den Inhalt erst nach 3 Monate Lagerung zu verzehren. Die Götter öffneten die Tonbehälter nach dieser Zeit und flüchteten in wildem Entsetzen. Die Menschen konnten nun selbst Besitz von ihrem Land ergreifen.

Es handelt sich hier um einen Mythos, der eine eigene Entstehungsgeschichte des Landes beinhaltet; er gibt uns aber auch einige praktische Lektionen über die gesellschaftlichen Formen dieses Bergvolkes. Die Geschichte belegt die kulturelle Selbstständigkeit einer Volksgruppe, innerhalb einer Mehrheit mit unterschiedlichem Hintergrund, die aber über den gesamten Staat und einer überlegenen Technologie herrschte. Die Phnong wurden schließlich von den einflussreichen und elitären Khmer in die grenznahen Randgebiete verdrängt. Während die Bürger von Angkor vielfache kulturelle und politische Wandlungen unterzogen wurden, behielten die Phnong ihre alten kulturellen Institutionen. Nach dem Zerfall des einst dominierenden Angkor, durchlief die Nation der Khmer die üblichen und ständigen Wandlungen innerer Machtkämpfe, Eroberungen und Verteidigungskriege, der Kolonialisierung durch Frankreich, den Auswirkungen des Vietnamkriegs, bis zum Genozid der „Roten Khmer“ und schließlich dem Prozess der Demokratisierung.

Während die wechselnden Machtstrukturen, Rechtswesen, Verwaltung und das moralische Gefüge der Kambodschaner mit den Umständen wechselten, blieb die Gesellschaft der Stämme der Phnong nahezu unberührt. Außer ihrer geographischen Abscheidung, lag der Hauptgrund dafür in ihrem Desinteresse an Macht und staatlicher Mitwirkung. Diese politische Neutralität gewährte auch ihr Überleben in der chaotischen Periode des Bürgerkriegs und den „Killing Fields“ der Steinzeitkommunisten (1975-1978).

Wie funktioniert so eine Gesellschaft erfolgreich über den Lauf von Tausend Jahren?
Muss es nicht einen Anführer geben, eine Autorität der letzten Entscheidung? Völker wie die Phnong erkennen nicht den Nutzen menschlicher Macht oder Führerschaft. Alles Wesentliche wird gemeinschaftlich erörtert. Es gibt natürlich stets die weisere und erfahrenere Stimme, welche eine endliche Entscheidung beeinflusst. Ein positives Resultat gibt dem Ratgeber ein gewisses Prestige, das er allerdings mit dem nächsten, schlechten Vorschlag wieder verliert. Eine längere Erfolgsbilanz guter Ratschläge führt aber nicht zu einer gehobenen oder machtvolleren Position im Stamme, welche dem Inhaber besondere Rechte erteilt. Bei jeder Beratung, jeder Abstimmung, haben die Meinungen aller Mitglieder immer den gleichen Wert. Die Freiheit des einzelnen Phnong erfährt nur eine Einschränkung durch die selbstgewählten Traditionen und Sitten.

Es gab und gibt also Gruppen, bei denen selbstgewählte moralische Institutionen alleine das soziale Gefüge aufrechterhalten, und Macht und Herrschaft ein störender, destruktiver Faktor darstellt. Ihr Leben in der Natur und mit der Natur hat Vorrang vor Expansion und technologischer und wirtschaftlicher Entwicklung. Wären diese Stämme in der Lage ein Nationen-Gebilde zu gründen? Dies ist zu bezweifeln. Die Erfordernisse der inneren und äußeren Sicherheit und einer Verwaltung, erforderte das Erstellen und die Abgabe von Autorität an eine zentrale Macht, ob es sich dabei um einen Autokraten handelt, einen Ältestenrat oder ein Parlament. Auf lange Sicht überleben diese „Nicht-Staaten-Völker“ nur als Protektorat organisierter Nationen, oder sie verschwinden im Nebel der Geschichte.

*) „Les maisons de pierre du village de Chiang“, veröffentlicht in „Peninsula“ 2015 Nr. 71

© Nov 2017 Abdruck nur mit Genehmigung.

9 Gedanken zu „DIE PHNONG: STAAT OHNE MACHT

  1. In kleineren Gemeinschaften funktionieren so gut wie alle politischen Systeme und Ideologien. Ab einer gewissen Größe scheint es einen Punkt zu geben, an dem das nicht mehr möglich ist und nur noch Gewalt und Unterdrückung in unterschiedlichen Ausprägungen nötig sind um eine Gesellschaft zu organisieren.

  2. Die Deutschen können offenbar auch nur als Nicht-Staaten-Volk überleben.
    Habe schon vorgeschlagen, daß die Uighuren aus Sinkiang komplett nach D. umsiedeln, und einige Deutsche nach Sinkiang gehen als autonome Gruppe innerhalb Chinas.
    Nutzt allen, und wir können eine neue deutsch-chinesische Mauer an der Westgrenze Chinas bewachen.
    Als Bonus stirbt die deutsche Sprache nicht aus.

  3. @Hessenhenker:
    Bleiben lieber WIR in unserer Heimat und lassen die Befürworter gehen.
    Ich ginge jedenfalls nicht, unter keinen Umständen.

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